Die Sonne strahlt in
ihrem schönsten Frühlingsblau über dem Dach Deutschlands. Sie zerteilt dunkle
Regenwolken und schneidet Schatten in die grau-bunten Häuserschluchten. Die
letzte Kreuzberger Winternacht ist Geschichte, das Braunschweigische Funksignal
hat in der Dunkelheit automatisch den Sommer eingestellt, und der Sonntag ist
gerade dabei mittelprächtig zu gedeihen.
Nora schläft noch im Winter. Sie schläft wieder
allein. Und ihr letzter Winter war nicht kalt.
Vor dem Fenster
zerteilt der schmale Landwehrkanal die Stadt in den warmen Süden und den warmen
Norden - fließt durch den Nahen Osten und Europa. Entlang des
interkontinentalen Sprachflusses wird auch manchmal Schrott transportiert - von
Berlin nach Berlin. Heute ist es eine Prahm Aluminiumschrott, nicht aus dem
bayrischen, aber aus dem Spandauer Motorenwerk nach Stralau. Der Sonntag bringt
das Aluminium in der Sonne zum Glänzen und den Umsatz des Schiffseigners
allemal. Matthi profitiert auch davon. Er lenkt den Kahn mit erfahrener Hand
durch Berlin, über Havel und Landwehrkanal bis hin zur Spree. Keine besondere
Fuhre für ihn, Sonntagszuschlag gibt es auch, was will er mehr. Gleich hat er
sein Ziel erreicht. Kurz vor der Treptower Brücke schiebt er die Baseballmütze
tiefer ins Genick, greift in die Leine und setzt das Signal. Der Brückenbogen
ist, wie nicht selten in Berlin, schmal und niedrig, zu wenig Platz für
Gegenverkehr. Für Matthi kein aufregendes Ereignis, auch sein Dalmatiner bleibt
trotz der ohrenbetäubenden Schiffspfeife geruhsam an der Reling sitzen und
mustert die Kreuzberger Hundedamen weinenden Auges.
Vierundzwanzig Stunden
jünger läutete Nora an Ulfs Wohnungstür. Die Sprechanlage blieb stumm. Ein
zweiter und ein dritter Versuch. Verärgert verließ sie den Eingang des hohen
Eckhauses und wendete sich hilflos um. Ihr Mantel verwehte ihren Duft.
Gegenüber stehen schon
die ersten Tische vor dem Café. Ein Paar turtelt mit den Händen. unter der
Tischplatte. Es sind zwei junge Männer. Noras Augen suchen einen anderen
Zielpunkt, ihre Ohren finden ihn. Die Boccia-Kugeln klirren, so wie jeden Tag,
vor Ulfs Fenster. Nora kann nur zwischen verschiedenfarbigen Kugeln
unterscheiden - sie kann nicht gewinnen, sie kennt die Spielregeln nicht.
Ziellos treibt sie entlang des Landwehrkanals, vorbei am Paradies lärmender
Kinder, kreuzt sie eilige Radfahrer und schwarze Hunde, gleich welcher Größe.
Die Hunde flößen ihr wie in Kindheitstagen Respekt ein.
Pflastersteine aus
Granit, Wegkanten aus grauem Beton, Pflastersteine aus rotem Beton, mit Asphalt
versiegelte Katzenbuckel - der Weg schlängelt sich zwischen Grasbüscheln,
eingemauerten und vergitterten Platanen, kastrierten Weiden, geschändeten
Kastanien, umzäunten Forsythien, zerhackten Rosenstöcken, immer entlang der
bunten Blechkarawane. Die Knospen frischen Grüns sind dennoch nicht mehr ganz
klein. Möwen, Stockenten und Tauben streiten um die Reste eines Döners. Die
letzten Nebelkrähen schauen argwöhnisch von weitem zu. Der Winter ist alt , die
Natur ein Überlebenskünstler.
Nora stößt auf einem
flachen roten Klinkerbau, direkt am Wasser gelegen, umgeben von einem
Grundstück mit Bootsliegeplatz - eine grüne Idylle mitten im
Mietskasernengedärm. An der Wasserbauverwaltung nimmt der Neuköllner
Schiffahrtskanal seinen Lauf. Am gegenüberliegenden Ufer trotzen graue
Plattenhäuser aus der Zeit der anderen deutschen Republik dem Zahn der Zeit.
Die verlorene Mauer gibt die Sicht frei. Die Ufer fliehen auseinander, verengen
sich unter den Pfeilern der alten Bahnbrücke zum ehemaligen Görlitzer Bahnhof
und finden an der Treptower Brücke wieder zusammen. Vergessen im Verlauf von 28
Jahren, wiedergeboren 1993, wuchs zusammen, was zusammengehörte, ein stille
Verbindung zwischen Treptow und Kreuzberg. Behutsam streichen Noras Hände über
die samtenen harten Klinker. Sie fühlt, daß die Steine leben. Feuer, Wasser,
Erde, Luft.
Und Menschen. Eine
wilde Deponie im Niemandsland - ein Zeugnis der Urbanisierung? Als Jäger hat
der Mensch die Knochen seiner letzten Mahlzeit vergraben oder sie den Geiern und
Wölfen überlassen, als Sammler hinterläßt er alte Möbel und Kühlschränke, Glas
und Autoreifen, Schrott und leere Farbeimer, Plasiktüten und Ruderjollen,
Lumpen und alten Schuhe. Er überläßt all das sorglos den Berliner Krähen und
seinen Kindern. Die Kinder freuen sich, noch springen sie arglos über die alten
Schrottautos Marke
Daimler oder Wartburg. Ratlos schaut Nora dem Aufgebot der Unvernunft in die
Augen, die schöne Brücke, auf welcher ihre schlanken Hände noch verweilen, ist
in ihrer Wahrnehmung erloschen.
Kinder schreien aus
vier Himmelsrichtungen, ihre Karussells drehen sich überallhin. Kinder des
Sonntags werden von ihren Eltern an der Leine geführt, manche können sich kurz
befreien und toben allein durch die bunte Republik. Der Seilbahn fehlen die
Berge, und Nora fährt in ihre Kinderzeit zurück. Ihre Spielplätze sind schöner
geworden.
Am Eingang des
Schlesischen Buschs ragt ein Betonfinger drohend in den Himmel. Bedrohung für
die einen, Mahnung für die anderen. Glück und Beklemmung für Nora. Erinnerungen
werden in ihr hochgespült. Auch hier verlief der Todesstreifen mitten durch die
Stadt. Auf dem Betonklotz äugen keine Scheinwerfer mehr. Der Stacheldraht durch
deutsche Herzen wurde längst verschrottet, die Klagemauer bereits zermahlen.
Die Grenzsoldaten sind arbeitslos, die Streifenhunde bewachen mit ihren
Offizieren die S-Bahn. Und der Schießbefehl wurde nie gefunden. Jetzt steht der
Wachturm unter Denkmalschutz. Eine Metamorphose - vom Beschützer zum
Beschützten. Im Turm schaffen junge Künstler. Eine Galerie der Hoffnung ist
entstanden.
Zweiarmig flutet der
Landwehrkanal in die Spree. Nora hat Glück. Kein Brückenzoll ist zu entrichten.
Freien Fußes überschreitet sie die Oberer Freiarchenbrücke, dann die
Schlesische Brücke. Ein paar Angler streiten um die Fische, welche am Wehr
getrichtert werden. Ihre Blinker tanzen in der Sonne. Netze hängen im Wind,
träge schaukeln Fischerboote am Steg, die Fischkisten sind leer oder verrottet.
Orange Bojen schlagen im Takt der Wellen an geteerte Pfähle. Ein leerer Ölkanister liegt im Boot. Der Motor sieht
alt aus, sein Auspuff ragt wie ein Schornstein in die Luft. Klatschend schwappt
braunes Wasser an das heruntergelassene Wehr . Schaumkronen bilden sich. In der
Ferne strecken Schiffsladekrane ihre hakeligen Finger in den Himmel und
verkünden Wochenendruhe auf der Lohnmühleninsel. Eine Geruch von Wasser, Fisch,
Teer und Diesel liegt in der Luft. Lisa, die Katze des letzten Kreuzberger
Fischers, schleicht leise über den Bootssteg und inspiziert die leeren Boote.
Dann endlich sieht sie den zappelnden Fisch im Köcher des Anglers und erstarrt.
Sie springt nicht. Zwei kleine Gören werfen Steine nach Lisa, sie erschrickt
und trollt sich. Die Mädchen sind's zufrieden. Gleich neben dem Fischerhaus ein
kleiner Imbiß mit Fischverkauf. Nora kauft einen geräucherten Aal. Sie muß
nicht bis Ostern auf die Aale warten, die Planwirtschaft ist vorbei. Der Aal
ist ein echter Berliner, ein Symbol deutsch-polnischer Anziehung, er heißt
Wojtek und schwamm zuletzt in einem Masurischen See.
Wojteks Kopf schwenkt
durch die Berliner Luft, sein Körper ist von Papier bekleidet. Noras Hände
saugen Wojteks Körpergeruch auf. Sie findet ihn männlich. Wojtek verführt Nora
Richtung Oberbaumbrücke. Die aufgeständerte U-Bahn bildet die Leitlinie. Hinter
dem Bahnhof Schlesisches Tor fährt sie noch nicht wieder. Der U-Bahnhof
Warschauer Brücke erwacht gerade aus dem Dornröschenschlaf. Der Mittelbogen der
Oberbaumbrücke fehlt noch. Die Tram-Bahngleise liegen schon wieder in der
Fahrbahn, aber die Trambahn verirrt sich noch nicht aus Friedrichshain. Nur die
Autos fahren schon wieder.
Am anderen Ufer der
Spree verfällt die East-Side-Galery zusehends. Mr. Gorbatschow fallen die Zähne
aus dem Gesicht, die Trabbis verlieren die Räder, Himmel der Hoffnung brechen
auseinander. Die Künstler beginnen Copyrigths und Vermarktungsrechte gegenüber
der Stadt Berlin geltend zu machen. Originale Mauerteile mit Graffitis erzielen
in Japan einen höheren Preis. Noch steht die Mauer hartnäckig aus Beton, die
Tauben scheißen auf die Kunst und langsam zerblättert die längste Galerie der
Welt. Die Freiheit braucht nicht mehr verkündet zu werden.
In Ulfs
Galeriewerkstatt findet Nora ihren Körper wieder. Das Haus ist
liberal-alternativ. Im Hausflur hängen die Kanus unter der Decke, die Kneipe
führt türkische und bulgarische Gerichte. Im Hinterhof starren Heckengewächse
in den Himmelsausschnitt. An den Wänden Plakate gegen die Tiergartentunnel. In
der Galeriewerkstatt liegen Scherben über Scherben. Glas, Keramik, Porzellan,
in jeder Form, jeder Farbe und jedem Muster. Auf dem Boden liegen verstreut
diverse Vorlagenbücher. Nora wird aus Scherben und Klebepistole
zusammengesetzt. Halbfertig steht sie im Raum. Ihre Kurven sind vollendet. Ihr
Haar strahlt schon den roten Glanz aus. Ulf ist nicht hier. Er holt sich keinen
Tee aus dem Samowar in der Kneipe und repariert keine Fahrräder im Hausflur.
Vielleicht erforscht er gerade weibliche Körper. Nora wartet vergeblich.
In der Bäckerei
Sansibar tauscht Nora harte D-Mark gegen
weiches Fladenbrot. Sie klemmt es zu Wojtek unter den Arm. Die beiden
vertragen sich.
Neben Schlesien
befindet sich Mexiko, und Ungarn gibt den Ton an? In Kreuzberg nicht unmöglich.
Am Schlesischen Tor befindet sich ein mexikanisches Restaurant. Die letzten
ungarischen Busse fahren im Schienenersatzverkehr. Sie blasen Dieselgestank und
Ruß in die offenen Türen des Mexikaners. Die Motoren verkünden beim Anfahren
Stärke.
Der Mexikaner ist mit
Gästen überfüllt - Nora landet in ihrem Stamm-Eck-Cafe am Görlitzer Park. Sie bestellt
Milchkaffee. Fröstelnd bewundert sie die Mutigen, welche sich bereits an Tische
im Freien gewagt haben. Robert, der dunkelhäutige Kellner aus Kanada, ist mit
den zusätzlichen Gästen im Freien total überfordert. Nora muß lange auf den
Milchkaffee warten. Aber er hat trotzdem für Nora ein paar Sätze Zeit. Sie
findet ihn sexy. Robert hat eine kleine Tochter und eine hübsche Frau. Seine
Tochter treibt Schabernack. Immer wieder schiebt sie den Lautstärkeregler des
Musikverstärkers im Café auf volle Pulle. Den Gästen fallen die Ohren vom
Stamm. Papa muß schimpfen. Robert hat Streß. Das Chaos scheint perfekt. Dann
greift Mama ein. Wojtek lacht. Das Fladenbrot ist schon ein Stück kleiner
geworden. Der Milchkaffee schäumt noch. Zwei Tische weiter werden Queues
begutachtet und Billardkugeln aufgelegt.
Gegenüber, am Eingang
zum Görlitzer Park, fliegen Bälle durch
einen Torbogen. Das Tor hat deutsche Maschinenbaukunst im 19.Jahrhundert
geschaffen - ein Gußteil gewölbt wie ein gotischer Bogen. Jetzt ist es eingemauert
in einen Altar der Phantasie aus Ziegeln, Keramikfliesen, alten Zahnrädern,
Pumpengestängen, Abwasserrohren. Vielleicht eine Assoziation zum Görlitzer
Bahnhof. Der Park war der Bahnhof. Der Park ist noch jung. Nora kennt nur den
Park. Ulf hat ihr die Spuren des Bahnhofs gezeigt. Irgendwann haben Berliner
das Auto als bequemeres Verkehrsmittel entdeckt. Viele ihrer Bahnhöfe haben sie
verfallen lassen, die Kriegszerstörungen hatten Vorarbeit geleistet, und
anschließend ausgelöscht. Was bleibt sind Erinnerungen und nostalgische
Gefühle.
Der Tag wird älter.
Langsam beginnt es zu dämmern. der zweite Milchkaffee hat seine Schaumkrone
verloren.
Nora traut sich nicht
allein durch den dunklen Park. Sie nimmt den längeren Weg um den Park. Sie
schwenkt am Lausitzer Platz links ab. Am Spreewaldbad gleisen die Lichter über
dem Bassin. Das Wasser glitzert blau und spritzt durch die Halle. Die
graffitierten Fenster leuchten bunt. Der Geräuschpegel bleibt hinter den
Scheiben. Wojtek möchte schwimmen gehen, aber Nora kann den Chlorgeruch nicht
ertragen.
Es ist dunkel
geworden. Sterne sind nur wenige zu sehen. Berlin ist zu hell und der Wolken
sind zu viele. Der Mond hängt, einen Tag nach Neumond, als ganz schmale Sichel
und halb verdeckt am Himmel. Nora scheint es, als würde er auf einem Minarett
über Kreuzberg stehen.
An der
Paracelsus-Apotheke muß Nora den Nachtdienst in Anspruch nehmen. Das Rezept
trägt sie schon seit einer Woche mit sich herum. Heute ist der letzte Tag. Die
Apothekerin ist nett. Sie schiebt die gewünschten Pillen durch den Schlitz in
der Tür und heftet das Rezept ab. Sie sagt Tschüß und wünscht Nora noch einen
schönen Abend. Sie ist auch eine Frau.
Nora unternimmt einen
letzten Versuch. Sie läutet nicht umsonst. Am Abend mancher Tage ist Ulf
tatsächlich in seiner Wohnung anzutreffen. Nora hat ihn lange gesucht.
Plötzlich wird Hoffnungslosigkeit von Geilheit überschwemmt. Sie kommt gerade
noch dazu den Aal und die Reste des Fladenbrotes auf den Tisch zu packen. Ihre
Hände riechen nach Fisch, und Ulf ist ein Künstler. Später finden sie sich in
seinem breiten schwarzen Metallbett mit den Messingverzierungen an Kopf-und
Fußende wieder.
Der Bahnhofsvorsteher
pfeift auf seiner Reichsbahn-Trillerpfeife und winkt dienstbeflissen mit der
grünen Kelle. Die letzten Türen schlagen zu. Ulf, der Zugführer, springt noch
auf. Nora gibt Handzeichen, sie ist abfahrbereit. Ihre rotes Mützenband
verschwindet im Fenster. Sie setzt die Maschine unter Dampf. Robert ist ihr
Heizer. Er schiebt die schwarze Mütze aus dem dunklen Gesicht. Nora drückt ihn
an das kalte Metall der Tendertür. Mit starken Armen greift ihr Robert unter
den Po und hebt sie an. Nora dirigiert die Frequenz der Bewegung. Sie überfährt
alle Signale an der Landwehrkanalbrücke.
Der Görlitzer Bahnhof verschwimmt unter gleichmäßigen Stößen in der Ferne. Ulf
hält den Zug mit der Notbremse an. Er steigt in den Führerstand und zieht am
Griff der Dampfpfeife. Dann leckt er Nora den schweißnassen Rücken. Robert
setzt sie mit gespreizten Schenkeln auf dem Klappsitz des Lokführers ab. Ulf
muß auf den Holzbohlen knien, um Noras Instrumente bedienen zu können. Robert
hantiert am Gestänge. Die Kolben setzen sich wieder in Bewegung. Im Abteil des
Zugführers ist es weich und warm. Befriedigt träumt Nora weiter, bis Matthi das
zweite Mal die Dampfpfeife ertönen läßt.
Nora schreckt hoch.
Der erste Frühlingstag beleuchtet langsam ihr Bewußtsein. Ulf liegt nicht neben
ihr. Er arbeitet bereits an seinen Frauen. Nora bleibt im Bett. Sie nimmt die
letzten Russisch-Klausuren aus ihrer Aktentasche und beginnt, sie zu
korrigieren.